Diagnose

Nach­fol­gen­de Beschrei­bun­gen las­sen sich in begrenz­ter Wei­se auch auf ande­re Sucht­er­kran­kun­gen über­tra­gen. Für die Dia­gno­se einer Alko­hol­ab­hän­gig­keit gibt es ver­schie­den Grund­la­gen. Für das nach­fol­gen­de Bei­spiel wird der ICD-10 (Inter­na­tio­nal Sta­tis­ti­cal Clas­si­fi­ca­ti­on of Dise­a­ses and Rela­ted Health Pro­blems) (1*) zugrun­de gelegt. Dort wer­den im Bereich F10 – F19 (Psy­chi­sche und Ver­hal­tens­stö­run­gen durch psy­cho­tro­pe Sub­stan­zen) 6 Kri­te­ri­en beschrie­ben, um Sucht zu dia­gnos­ti­zie­ren.

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Gene­rell gilt: Alko­hol­kran­ke Men­schen haben das Pro­blem, dass sie mit Alko­hol nicht mehr ange­mes­sen umge­hen kön­nen. Hilf­reich ist in die­sem Zusam­men­hang zwi­schen Wir­kungs-Trin­ken und Genuss-Trin­ken zu unter­schei­den. Doch das ist nur eine Annä­he­rung an das Pro­blem, denn nicht jeder, der manch­mal viel trinkt, ist gleich ein Alko­ho­li­ker.

Um Abhän­gig­kei­ten prä­zi­ser bestim­men zu kön­nen, ist es also sinn­voll, auf die Defi­ni­ti­on des ICD-10 zu schau­en. Kurz zusam­men­ge­fasst wird die Dia­gno­se einer Alko­hol­ab­hän­gig­keit dort anhand von 6 Kri­te­ri­en oder Sym­pto­men bestimmt.

Sind von die­sen 6 Kri­te­ri­en min­des­tens 3 Kri­te­ri­en über einen län­ge­ren Zeit­raum nach­weis­bar, spricht man im Sin­ne des ICD-10 von einer Alko­hol­ab­hän­gig­keit.

Kriterium 1: Kontrollverlust über die Menge, die getrunken wird

Die Kon­trol­le beim Trin­ken zu ver­lie­ren bedeu­tet ver­ein­facht aus­ge­drückt: Solan­ge Trin­ken, bis man ein­schläft. Ein stil­vol­ler Sin­gle-Malt an der Bar oder ein Ape­rol-Spritz nach der Arbeit ist für Alko­ho­li­ker immer nur der Anfang eines Besäuf­nis­ses. Wenn nach dem After­work-Drink die Arbeits­kol­le­gen schon längst zuhau­se im Bett lie­gen, um sich für den nächs­ten Tag aus­zu­ru­hen, betrin­ken sich alko­hol­kran­ke Men­schen meist bis zum Still­stand der Augen und der Vital­funk­tio­nen: Kater oder sogar Ent­zug am nächs­ten Mor­gen inklu­si­ve.

Kriterium 2: Steigende Toleranz gegenüber Alkohol

Das kann nun vie­les hei­ßen. Fakt ist: Von Geburt an ver­trägt unse­re Leber bis zu ca. 0,5 Pro­mil­le Blut­al­ko­hol­wert. Ab die­sem Wert wird einem Men­schen schlecht, wenn er vor­her noch nie Alko­hol kon­su­miert hat. Mit der Zeit ent­wi­ckeln sich in der Leber aber bestimm­te Enzy­me, die ihr dabei hel­fen, den Alko­hol bes­ser zu ver­stoff­wech­seln. Die­se Kon­di­tio­nie­rung ist zunächst nicht schlimm, auch wenn sie irrever­si­bel ist: Die Leber wächst eben mit ihren Auf­ga­ben (Eck­hardt von Hirsch­hau­sen). Die­se Kon­di­tio­nie­rung ist aller­dings auch ver­ant­wort­lich für ein son­der­ba­res Phä­no­men:

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Wenn ein alko­hol­kran­ker Mensch an einem bestimm­ten Punkt in sei­nem Leben auf­hört, Alko­hol zu trin­ken, hat er sei­ne Leber meis­tens über Jah­re hin­weg trai­niert. Die­se Leis­tungs­fä­hig­keit ist irrever­si­bel und bleibt auf Lebens­zeit erhal­ten. Des­we­gen sind Rück­fäl­le im hohen Alter beson­ders gefähr­lich. Denn wenn ein 80-jäh­ri­ger Mensch nach 40 Jah­ren Abs­ti­nenz plötz­lich wie­der Alko­hol trinkt, ver­trägt sei­ne kon­di­tio­nier­te Leber noch genau­so viel, wie 40 Jah­re zuvor. Doch sind die Kon­se­quen­zen für den Kör­per eines 80-jäh­ri­gen Men­schen ganz anders als für einen 40-jäh­ri­gen, wenn er plötz­lich völ­lig die Kon­trol­le ver­liert und nicht mehr auf­hö­ren kann, zu trin­ken. Auch des­we­gen ist es so wich­tig, dass alko­hol­kran­ke Men­schen am The­ma dran blei­ben, in Selbst­hil­fe­grup­pen gehen oder sich ander­wei­tig kon­ti­nu­ier­li­che Hil­fe sichern. Denn wenn ein Mensch nach lan­ger Zeit wie­der zu trin­ken anfängt, ist das Pen­sum das­sel­be, wie vor der Abs­ti­nenz­pha­se.

Um das The­ma Tole­ranz noch ein­mal kurz­zu­fas­sen: Wenn ein Mensch nach 0,5 Litern Bier ange­trun­ken und am nächs­ten Mor­gen davon ver­ka­tert ist, dann könn­te man gut anneh­men, dass die Tole­ranz eher gering ist (vor­aus­ge­setzt, dass die Orga­ne, die den Alko­hol abbau­en, gut funk­tio­nie­ren). Wenn ein Mensch hin­ge­gen 10 Hefe­wei­zen trin­ken kann, ohne dass man ihm etwas anmerkt, kann wahr­schein­lich von einer gewis­sen Tole­ranz aus­ge­gan­gen wer­den.

Kriterium 3: Entzugs-
erscheinungen, wenn nicht getrunken wird

Grund­sätz­lich unter­schei­det man bei alko­hol­kran­ken Men­schen zwi­schen Spie­gel­trin­kern und Quar­tals­trin­kern. Letz­te­re zeich­nen sich dadurch aus, dass sie lan­ge Tro­cken­pha­sen haben. Wenn sie dann jedoch in ihre Trink­pha­sen gelan­gen, sind sie oft völ­lig lebens­un­fä­hig. Sie gehen dann nicht mehr arbei­ten und oft auch gar nicht mehr aus dem Haus, außer um Alko­hol nach­zu­kau­fen. Spie­gel­trin­ker dage­gen haben immer einen gewis­sen Alko­hol­spie­gel im Blut. Sie trin­ken kon­ti­nu­ier­lich. Man­che schaf­fen es sogar, einer Arbeit nach­zu­ge­hen. Bei die­sen Men­schen spricht man dann auch von „funk­tio­nie­ren­den Alko­ho­li­kern“. Spie­gel­trin­ker haben viel häu­fi­ger Ent­zugs­er­schei­nun­gen, als Quar­tals­trin­ker. Doch das heißt nicht, dass das eine weni­ger schäd­lich ist als das ande­re.

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Ent­zugs­er­schei­nun­gen sind gefähr­lich und müs­sen ärzt­lich behan­delt wer­den. Wenn ein Mensch die Ent­schei­dung getrof­fen hat, mit dem Trin­ken auf­zu­hö­ren, soll­te er das nicht ohne ärzt­li­chen Bei­stand tun. Am bes­ten, in einer medi­zi­ni­schen Ent­gif­tungs­kli­nik. Ent­zug ist nie schön. Men­schen schwit­zen und frie­ren gleich­zei­tig. Bekom­men Angst­zu­stän­de, wer­den unge­dul­dig und vie­les wei­te­re mehr. Im schlimms­ten Fall kann der Kör­per sogar kol­la­bie­ren: Es kommt zu Schlag­an­fäl­len, Herz­in­fark­ten, Krampf­an­fäl­len oder Delir. Bit­te neh­men Sie ärzt­li­che Hil­fe in Anspruch. Es ist nichts Ver­werf­li­ches dar­an, mit einer schwe­ren Erkran­kung zum Arzt zu gehen und sich Hil­fe zu holen.

Wich­ti­ge Mel­dung: Es ist wich­tig, das Trin­ken nicht ohne ärzt­li­che Auf­sicht zu been­den. In die­sem Zusam­men­hang sind die War­te­zei­ten in den Ent­gif­tungs­kli­ni­ken zu nen­nen. Manch­mal war­tet man auf einen sol­chen Platz bis zu 2 Wochen. In die­sem Fall ist es wich­tig, den Kon­sum nicht abrupt und selbst­stän­dig zu stop­pen. Oft sen­ken die Pati­en­ten den Kon­sum so weit, dass sie kei­ne Ent­zugs­er­schei­nun­gen haben, um ihn dann in der Kli­nik ganz zu been­den. Bit­te neh­men Sie Kon­takt zur pro­fes­sio­nel­len Sucht­hil­fe auf, wenn Sie mit dem Trin­ken auf­hö­ren möch­ten.

Kriterium 4: Vernachlässigung wichtiger Lebensbereiche zugunsten des Konsums

Wenn Job, Fami­lie, Kör­per­hy­gie­ne, MPU, usw. zuguns­ten der Sucht ver­nach­läs­sigt wer­den, ist das ein kla­res Anzei­chen von Sucht. Wenn die Frau es stört, dass du viel trinkst – dann ist das The­ma Sucht berührt. Wenn sie nur noch beim Trin­ken stört, ist der Sucht­be­weis geführt.

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Will hei­ßen: Stellt man den Kon­sum über die per­sön­li­che Lie­bes­be­zie­hung, über die eige­nen Kin­der, über den Beruf, über den Füh­rer­schein, über die Gesund­heit, über die Kör­per­hy­gie­ne, etc. – dann ver­nach­läs­sigt man wich­ti­ge Berei­che des Lebens zuguns­ten des Alko­hol­kon­sums.

Wenn das der Fall ist, haben sich Prio­ri­tä­ten im Leben ver­scho­ben und das Trin­ken hat schon einen so hohen Stel­len­wert, dass die Betrof­fe­nen häu­fig in Kauf neh­men, dass sich das lie­ben­de Umfeld gro­ße Sor­gen macht. In man­chen Fäl­len kön­nen Men­schen ihrem Umfeld zulie­be mit dem Trin­ken auf­hö­ren. Meis­tens schaf­fen alko­hol­kran­ke Men­schen dies aber erst, wenn sie sehr tief in der Sucht ste­cken. Das gehört lei­der zur Erkran­kung dazu.

Kriterium 5: Konsum trotz medizinischer Konsequenzen

Vie­le Alko­hol­kran­ke kön­nen den Kon­sum nicht stop­pen, auch wenn ihre Leber­wer­te schon sehr hoch sind und der ärzt­li­che Rat ein Wei­ter­trin­ken drin­gend ver­bie­tet. Das Nicht-Stop­pen-Kön­nen liegt in der Natur der Sucht.

Beson­ders gefähr­det ist bei alko­hol­kran­ken Men­schen zum Bei­spiel die Bauch­spei­chel­drü­se. Wenn sie sich ent­zün­det, sind die Schmer­zen kaum aus­zu­hal­ten. Eine Bauch­spei­chel­drü­sen­ent­zün­dung kann sogar bis zum Tod füh­ren, wenn der Kon­sum nicht gestoppt wird und kei­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung statt­fin­det.

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In den Selbst­hil­fe­grup­pen, in den Sucht­kli­ni­ken und den ambu­lan­ten Hil­fe­an­ge­bo­ten ist die Welt häu­fig noch in Ord­nung. Auf den Inten­siv­sta­tio­nen ist dies meis­tens ganz anders, denn dort ster­ben jedes Jahr Tau­sen­de Men­schen an mul­ti­plem Organ­ver­sa­gen, als Fol­ge ihres jahr­zehn­te­lan­gen Alko­hol­miss­brauchs.

Kriterium 6: Psychische Abhängigkeit: ein schönes Leben ohne Alkohol wird unvorstellbar

Für alko­hol­kran­ke Men­schen erschei­nen schö­ne Erleb­nis­se ohne Alko­hol unvor­stell­bar. Zu jeder Gele­gen­heit muss ein Bier oder ein ande­res alko­ho­li­sches Getränk getrun­ken wer­den. Auch die­se Kom­po­nen­te der Sucht bleibt – genau wie die Kon­di­tio­nie­rung der Leber – ein Leben lang. Denn mit der Sucht wer­den posi­ti­ve emo­tio­na­le Ver­bin­dun­gen im Gehirn geschaf­fen, die ein gan­zes Leben lang bestehen blei­ben, egal wie zer­stö­re­risch der Alko­hol am Ende auf die Men­schen gewirkt hat. So kommt es, dass vie­le sucht­kran­ke Men­schen sich ein­fach nicht vor­stel­len kön­nen, dass sie nie wie­der Alko­hol trin­ken. Sie füh­len sich, als ob ihnen das Wich­tigs­te im Leben genom­men wird.

Das ist ein Sym­ptom der Sucht. Das genau ist die psy­chi­sche Abhän­gig­keit. Aber das ist nicht schlimm. Denn es ist nur wich­tig, für heu­te nichts zu trin­ken. Was mor­gen ist, kann sowie­so erst mor­gen ent­schie­den wer­den, und je län­ger Men­schen abs­ti­nent sind, des­to grö­ßer wird der Radi­us ihrer Inter­es­sen. Zwar wird sich nichts auf der Welt fin­den, was den Rausch erset­zen kann. Aber es fin­den sich ande­re Din­ge im Leben, wegen derer es sich (auch) zu leben lohnt.

Die psy­chi­sche Abhän­gig­keit kann sogar im Kern­spin­to­mo­gra­phen gezeigt wer­den

Wenn wäh­rend einer MRT-Unter­su­chung Bil­der von alko­ho­li­schen Geträn­ken gezeigt wer­den, reagiert das lim­bi­sche Sys­tem — das Beloh­nungs­sys­tem im Gehirn – bei sucht­kran­ken Men­schen anders, als bei Men­schen, die nicht sucht­krank sind; selbst wenn sie schon 30 Jah­re tro­cken sind. Das Gehirn ist auf Dau­er ver­än­dert wor­den. Hier­zu wer­den in der Neu­ro­bio­lo­gie gera­de sehr inter­es­san­te neue Erkennt­nis­se gewon­nen (2*).

Foto von aboo­di vesa­ka­ran auf Uns­plash

Im Fol­gen­den sind bei­spiel­haft eini­ge Abhän­gig­keits­er­kran­kun­gen auf­ge­führt. Die Lis­te könn­te sicher unend­lich fort­ge­setzt wer­den: Can­na­bis­ab­hän­gig­keit, Koka­in­sucht, Kokainbase/Cracksucht, MDMA-Abhän­gig­keit, Niko­tin­sucht, Amphet­amin­ab­hän­gig­keit, Opi­at­ab­hän­gig­kei­ten, Metam­phet­amin­sucht (Chrys­tal-Meth), Tabak­sucht, Hal­lu­zi­no­gen­ab­hän­gig­kei­ten (z.B. LSD oder Psi­lo­cy­bin-Pil­ze), Glück­spiel­suchtsucht, Sucht nach Ben­zo­dia­ze­pi­nen (z.B. Vali­um, Rohyp­nol)…

Den­je­ni­gen, die sich dem The­ma Sucht aus medi­zi­ni­scher Per­spek­ti­ve annä­hern möch­ten, sei der Vor­trag von Prof. Dr. Ger­hard Grün­der aus dem Jahr 2017 emp­foh­len. Ger­hard Grün­der ist Pro­fes­sor für Psych­ia­trie und Lei­ter der Abtei­lung für Mole­ku­la­res Neu­ro­ima­ging am Zen­tral­in­sti­tut für See­li­sche Gesund­heit, Mann­heim. Der Film ist zwar anspruchs­voll – aber er zeigt gut, wie kom­plex das The­ma Sucht ist und er ver­mit­telt einen guten ers­ten Ein­druck dar­über, wie Ärz­te und Ärz­tin­nen auf die Erkran­kung schau­en.

Hier das Video des Vor­trags von Prof. Dr. Ger­hard Grün­der:

(1*) ICD- 10-Brow­ser
(2*) https://www.dasgehirn.info/krankheiten/sucht/die-neurobiologie-der-sucht