Das Dilemma vom Grundgesetz und der Sucht
Wenn ein Mensch einen abhängigkeitserkrankten Menschen verlässt, weil er zuviel konsumiert, wird das oftmals als Verrat fehlinterpretiert. Doch in den meisten Fällen kommt die Entscheidung, sich vom süchtigen Menschen abzuwenden, ganz im Gegenteil, erst viel zu spät. Oft sind Jahre ins Land gegangen. Oder Jahrzehnte.
Ein gesunder Egoismus, um das eigene Leben und die eigene Würde vor Verletzung zu schützen, setzt bei Angehörigen von Abhängigkeitserkrankten oft nur sehr verzögert ein. Grenzverletzende Verhaltensweisen als Symptome einer Suchterkrankung schleichen sich allmählich und unmerklich ins Leben. Auf diese Weise wird die Toleranz der Angehörigen wie beim sprichwörtlichen Frosch im Kochtopf nach und nach angehoben – und wächst damit proportional zur Substanz-Toleranz der Abhängigen: Einen Ready-Made Spiegel-Trinker hätten sich wohl die wenigsten Menschen angelacht. Doch finden sich nach Jahren langer Partnerschaft Einige an der Seite eines genau solchen, schwer abhängigkeitserkrankten Menschen.

Früher wurde in diesem Zusammenhang von Co-Abhängigkeit gesprochen. Heute ist die Rede von ungesunden Familiensystemen. Doch am Ende des Tages ist es egal, wie dieser weitreichende Aspekt von Abhängigkeit genannt wird:
Ob Angehörige unter dem Konsum des Partners leiden, weil sie jeden Tag mit ansehen müssen, wie er oder sie sich mehr und mehr zerstört.
Oder ob sich Angehörige die Abhängigkeitserkrankung des Partners sogar zunutze machen, weil ihnen dadurch die stärkere Position im partnerschaftlichen System zuteil wird.
Wie gesagt: Am Ende ist es egal, welcher Name für all das vergeben wird.
Angehörige unterstützen Süchtige manchmal dabei, ihre Sucht zu organisieren. Weil sie sie lieben, weil sie sie fürchten oder weil sie anfangs noch naiv sind. Sie besorgen die Suchtmittel, beschwichtigen verärgerte Vorgesetzte und klären auch sonst viele Dinge, zu denen die Abhängigen nicht mehr in der Lage sind. Sie treffen die wichtigen Entscheidungen, während der andere Part sich seinem Konsum zuwendet.
Jedenfalls hängen in solchen Konstellationen viele Bereiche des Lebens vom Verlauf der Suchterkrankung ab. Vieles ordnet sich der Sucht unter.
Doch erscheint dies grotesk, in einem Land, in welchem die Verfassung schon in ihrem zweiten Artikel besagt:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Eingedenk dieser Worte ist es absurd, dass das Prinzip des selbstbestimmten Lebens für Angehörige im Falle einer Suchterkrankung oft überhaupt keine Rolle mehr spielt: Die Familienmitglieder sind dann so sehr damit beschäftigt, die Erkrankung des Süchtigen zu verbergen oder zu organisieren, dass sie sich selbst darüber völlig vergessen. Das geht manchmal so weit, dass sogar Kinder daran beteiligt werden, die Täuschung eines normalen Familienlebens aufrecht zu erhalten.

Es ist nichts weniger als ein gesellschaftliches Dilemma: Laut Grundgesetz leben wir hier einerseits selbstbestimmt. Das heißt in letzter Konsequenz, dass es auch Menschen geben darf, die im Bahnhofsviertel nach Geld für die nächste Dosis Heroin fragen. Auch wenn diese Menschen – mit zerfetzter Kleidung am Leib und ohne Schuhe an den Füßen – für den voreingenommenen Betrachter eigentlich andere Prioritäten haben sollten. Doch: Auch solche Menschen muss es geben dürfen. Zugunsten der Selbstbestimmung halten wir das aus. Wir können niemand gegen seinen Willen retten. Obwohl wir wissen, dass die Sucht, die diese Menschen belastet, zerstörerisch ist. Sie zerstört Menschen, Partnerschaften und ganze Familien.
Hier zeigt sich das gesellschaftliche Dilemma in voller Blüte: Denn die Zerstörung ganzer Lebensläufe, die durch das Prinzip der Selbstbestimmung gedeckt wird, verletzt andererseits das Leitprinzip unseres Staates:
Die Würde des Menschen ist unantastbar (Artikel 1, Grundgesetz)
Sucht und Dilemma haben viel miteinander gemein: Für den Außenstehenden liegen die Lösungen oftmals klar auf der Hand. Doch die Charaktereigenschaft der Suchterkrankung verhindert die Umsetzung dieser vermeintlich einfachen Lösungen. Denn wenn es tatsächlich einfach wäre, mit dem Konsum aufzuhören, wäre es keine Krankheit.

So endet dieser Beitrag ein wenig unbefriedigend, so wie das mit Dilemmata im Allgemeinen immer der Fall ist. Ein Trost bleibt die Möglichkeit, Hilfe anzunehmen. Für die Abhängigen selbst, für die Angehörigen, für Vorgesetzte, Mitarbeitende oder auf welche Weise auch sonst von einer Suchterkrankung betroffene Menschen. Für jeden gibt es eine helfende Ansprechperson. Und auch wenn die Suche nach ihr manchmal etwas Zeit in Anspruch nehmen kann, so lohnt sich jeder einzige Schritt auf diesem Weg.