Selbsthilfe

Gruppentheorie

Im Fern­se­hen oder im Film gibt es immer wie­der ein­mal die Geschich­te einer tra­gi­schen Figur, die eine Suchtselbst­hil­fe-Grup­pe besucht. Ent­we­der, um die eige­ne Abs­ti­nenz zu sichern, oder um über­haupt einen ers­ten Schritt aus der Sucht her­aus zu ver­su­chen. Der Besuch einer sol­chen Grup­pe hilft den Besu­chen­den dabei, ein nor­ma­les Leben zu füh­ren. Was immer das auch hei­ßen mag. – Immer­hin: bis hier­hin sind die Geschich­ten meis­tens noch eini­ger­ma­ßen stim­mig.

Doch was dann wei­ter über die­se Men­schen erzählt wird, hat oft mit dem wah­ren Leben nur wenig zu tun. Denn häu­fig wer­den abs­ti­nen­te Men­schen in die­sen Geschich­ten als geschei­ter­te Per­sön­lich­kei­ten dar­ge­stellt, die ein Dasein in unend­li­cher Reue und Tris­tesse fris­ten. Es mag auch ande­re Erzäh­lun­gen geben. Doch das Kli­schee vom geschei­ter­ten Süch­ti­gen, der nun zwar end­lich sau­ber, aber irgend­wie trau­rig anmu­tet, wird immer wie­der kol­por­tiert.

Und ja: Es ist natür­lich nicht so, dass es kei­ne Men­schen gibt, die auch in ihrer Abs­ti­nenz noch lei­den: Allein durch den Kon­sum-Stopp lösen sich natür­lich nicht alle Pro­ble­me in Luft auf. Weder die Pro­ble­me, die durch die Sucht erst gekom­men sind, noch die ande­ren. Es ist aber auch wahr, dass schon die Abs­ti­nenz allein Bal­sam sein kann, für Kör­per und See­le. – Wer frü­her am Tag eine Fla­sche Wod­ka getrun­ken hat, wird sich nach einer The­ra­pie und ohne Alko­hol sicher­lich wesent­lich bes­ser füh­len. Und auch noch etwas ande­res ist rich­tig: Das Leben ist im Fluss!

Foto von Meh­di Ben­ka­ci auf Uns­plash

Denn Sucht und Abhän­gig­keit sind rich­tig schwe­re Krank­hei­ten, und wenn schwe­re Krank­hei­ten über­wun­den wer­den, ändern sich nicht sel­ten die Lebens-Koor­di­na­ten: Men­schen begin­nen neue Jobs, ler­nen neue Men­schen ken­nen. Ver­lie­ben sich. Zie­hen in ande­re Städ­te. Set­zen ande­re Prio­ri­tä­ten. Oder aber: Ler­nen ihre eige­nen Kin­der ken­nen. Bau­en Bezie­hun­gen zu ihnen auf. Wer­den ver­ant­wor­tungs­vol­le Fami­li­en­mit­glie­der, wer­den gebraucht, wer­den geliebt, wer­den glück­lich.

Die Abs­ti­nenz bie­tet einen bun­ten Blu­men­strauß an Mög­lich­kei­ten für alle, die es ver­su­chen möch­ten. Das Bild vom reu­mü­ti­gen sucht­kran­ken Men­schen, der in eine Selbst­hil­fe­grup­pe gehen muss, damit er nicht rück­fäl­lig wird, greift des­we­gen viel zu kurz. Viel­mehr ist es genau umge­kehrt: Medi­zi­ni­sche Ent­gif­tung und the­ra­peu­ti­sche Ent­wöh­nung kön­nen für süch­ti­ge Men­schen der Anker­punkt für einen Start in ein glück­li­ches und zufrie­de­nes Leben sein. Wenn ein Mensch es geschafft hat, sich aus einer so schwie­ri­gen Lebens­la­ge her­aus­zu­win­den und in eine posi­ti­ve und nicht sel­ten freu­de­strah­len­de Zukunft schaut, kann eine Selbst­hil­fe­grup­pe wie der sprich­wört­li­che Kno­ten im Taschen­tuch sein. Auch wenn die­se Stoff­ta­schen­tü­cher immer ein klei­nes biss­chen eklig sind, selbst wenn sie bei sehr hohen Tem­pe­ra­tu­ren gewa­schen wer­den.

Image by Moj­ca-Peter from Pix­a­bay

In ähn­li­cher Wei­se bleibt bei abs­ti­nen­ten Men­schen manch­mal etwas von der Sucht an der eige­nen Sau­ber­keit haf­ten. Des­we­gen kann es hel­fen, in regel­mä­ßi­gen Abstän­den mit Men­schen zu spre­chen, die nach­voll­zie­hen kön­nen, was es heißt, sau­ber zu wer­den. Von vie­len Men­schen wird die Selbst­hil­fe weni­ger als Pflicht­ver­an­stal­tung ver­stan­den, denn als Tref­fen mit Freun­den. Des­we­gen ist es wich­tig, die rich­ti­ge Grup­pe zu fin­den. Oder gleich meh­re­re: Es gibt schier unend­lich vie­le… Man­che Grup­pen fin­den sich wäh­rend der The­ra­pie zusam­men und tref­fen sich im Wech­sel bei den Teil­neh­men­den zuhau­se. Vie­le Grup­pen tref­fen sich klas­si­scher­wei­se in den Pfarr­sä­len der städ­ti­schen Kir­chen. Dazwi­schen aber gibt es jede mög­li­che Form, die man sich nur irgend vor­stel­len kann.

Das media­le Bild von abs­ti­nen­ten Men­schen, die sich in Selbst­hil­fe­grup­pen tref­fen, ent­spricht also nicht ganz der Wahr­heit. War­um das so ist? Viel­leicht weil vie­le Men­schen immer noch glau­ben, dass man nur Spaß haben kann, wenn man trinkt – und dass man als abs­ti­nen­te Per­son auf ewig dem Sucht­mit­tel hin­ter­her­trau­ert. Doch meis­tens ist in Grup­pen das genaue Gegen­teil der Fall, denn für vie­le Men­schen ist die Grup­pe eine Quel­le von Lebens­en­er­gie und Inspi­ra­ti­on: Ein Ort, um Erleb­nis­se zu reflek­tie­ren und Erfol­ge zu fei­ern.

Foto von Broo­ke Cagle auf Uns­plash

Der iri­sche Nobel­preis­trä­ger Wil­liam But­ler Yeats brach­te die­ses Dilem­ma ein­mal ziem­lich gut auf den Punkt, als er sag­te: „Das Schlimms­te an man­chen Men­schen ist, dass sie nüch­tern sind, wenn sie nicht betrun­ken sind.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert