Gruppentheorie
Im Fernsehen oder im Film gibt es immer wieder einmal die Geschichte einer tragischen Figur, die eine Suchtselbsthilfe-Gruppe besucht. Entweder, um die eigene Abstinenz zu sichern, oder um überhaupt einen ersten Schritt aus der Sucht heraus zu versuchen. Der Besuch einer solchen Gruppe hilft den Besuchenden dabei, ein normales Leben zu führen. Was immer das auch heißen mag. – Immerhin: bis hierhin sind die Geschichten meistens noch einigermaßen stimmig.
Doch was dann weiter über diese Menschen erzählt wird, hat oft mit dem wahren Leben nur wenig zu tun. Denn häufig werden abstinente Menschen in diesen Geschichten als gescheiterte Persönlichkeiten dargestellt, die ein Dasein in unendlicher Reue und Tristesse fristen. Es mag auch andere Erzählungen geben. Doch das Klischee vom gescheiterten Süchtigen, der nun zwar endlich sauber, aber irgendwie traurig anmutet, wird immer wieder kolportiert.
Und ja: Es ist natürlich nicht so, dass es keine Menschen gibt, die auch in ihrer Abstinenz noch leiden: Allein durch den Konsum-Stopp lösen sich natürlich nicht alle Probleme in Luft auf. Weder die Probleme, die durch die Sucht erst gekommen sind, noch die anderen. Es ist aber auch wahr, dass schon die Abstinenz allein Balsam sein kann, für Körper und Seele. – Wer früher am Tag eine Flasche Wodka getrunken hat, wird sich nach einer Therapie und ohne Alkohol sicherlich wesentlich besser fühlen. Und auch noch etwas anderes ist richtig: Das Leben ist im Fluss!

Denn Sucht und Abhängigkeit sind richtig schwere Krankheiten, und wenn schwere Krankheiten überwunden werden, ändern sich nicht selten die Lebens-Koordinaten: Menschen beginnen neue Jobs, lernen neue Menschen kennen. Verlieben sich. Ziehen in andere Städte. Setzen andere Prioritäten. Oder aber: Lernen ihre eigenen Kinder kennen. Bauen Beziehungen zu ihnen auf. Werden verantwortungsvolle Familienmitglieder, werden gebraucht, werden geliebt, werden glücklich.
Die Abstinenz bietet einen bunten Blumenstrauß an Möglichkeiten für alle, die es versuchen möchten. Das Bild vom reumütigen suchtkranken Menschen, der in eine Selbsthilfegruppe gehen muss, damit er nicht rückfällig wird, greift deswegen viel zu kurz. Vielmehr ist es genau umgekehrt: Medizinische Entgiftung und therapeutische Entwöhnung können für süchtige Menschen der Ankerpunkt für einen Start in ein glückliches und zufriedenes Leben sein. Wenn ein Mensch es geschafft hat, sich aus einer so schwierigen Lebenslage herauszuwinden und in eine positive und nicht selten freudestrahlende Zukunft schaut, kann eine Selbsthilfegruppe wie der sprichwörtliche Knoten im Taschentuch sein. Auch wenn diese Stofftaschentücher immer ein kleines bisschen eklig sind, selbst wenn sie bei sehr hohen Temperaturen gewaschen werden.

In ähnlicher Weise bleibt bei abstinenten Menschen manchmal etwas von der Sucht an der eigenen Sauberkeit haften. Deswegen kann es helfen, in regelmäßigen Abständen mit Menschen zu sprechen, die nachvollziehen können, was es heißt, sauber zu werden. Von vielen Menschen wird die Selbsthilfe weniger als Pflichtveranstaltung verstanden, denn als Treffen mit Freunden. Deswegen ist es wichtig, die richtige Gruppe zu finden. Oder gleich mehrere: Es gibt schier unendlich viele… Manche Gruppen finden sich während der Therapie zusammen und treffen sich im Wechsel bei den Teilnehmenden zuhause. Viele Gruppen treffen sich klassischerweise in den Pfarrsälen der städtischen Kirchen. Dazwischen aber gibt es jede mögliche Form, die man sich nur irgend vorstellen kann.
Das mediale Bild von abstinenten Menschen, die sich in Selbsthilfegruppen treffen, entspricht also nicht ganz der Wahrheit. Warum das so ist? Vielleicht weil viele Menschen immer noch glauben, dass man nur Spaß haben kann, wenn man trinkt – und dass man als abstinente Person auf ewig dem Suchtmittel hinterhertrauert. Doch meistens ist in Gruppen das genaue Gegenteil der Fall, denn für viele Menschen ist die Gruppe eine Quelle von Lebensenergie und Inspiration: Ein Ort, um Erlebnisse zu reflektieren und Erfolge zu feiern.

Der irische Nobelpreisträger William Butler Yeats brachte dieses Dilemma einmal ziemlich gut auf den Punkt, als er sagte: „Das Schlimmste an manchen Menschen ist, dass sie nüchtern sind, wenn sie nicht betrunken sind.“